Synopsis

 

Digitalisierung und psychische Belastung am Arbeitsplatz -

ein vernachlässigter Aspekt im sozialen Dialog?

 

18.-21.Februar 2020, Nell-Breuning-Haus, D-52134 Herzogenrath

 

 

 

Die wichtigsten Aspekte

Viele Unternehmen sind „ … für die Herausforderungen der Digitalisierung … schlecht gerüstet.“ In jeweils rund 70 Prozent der größeren Betriebe werden großer Arbeitsdruck, damit verbundene psychische Belastungen und Defizite bei der Weiterqualifizierung als Probleme wahrgenommen, die Gesundheit und Zukunftsperspektiven der Beschäftigten gefährden können, so die WSI-Analyse. Die Defizite scheinen sich dabei kumulativ auszuwirken. Denn die Befunde zeigen weiterhin, dass sich die Arbeitsbedingungen generell in den vergangenen fünf Jahren vor allem in Richtung steigender Arbeitsintensität verändert haben (WSI (Policy Brief – WSI 02/2018)

 

In Deutschland leiden im Jahre 2018 zirka 18 Millionen Menschen an psychischen Erkrankungen, die auch auf die zunehmenden Belastungen in der Arbeitswelt zurück zu führen sind. Europaweit sind es im gleichen Jahr zirka 164 Millionen Menschen. Folgen sind Stress und psychosomatische Erkrankungen und zunehmende Arbeitsunfähigkeit bzw. Frühverrentungen. Dabei spielt die Digitalisierung eine große Rolle. Reizüberflutung durch digitale Medien und Kommunikationsmittel in Berufs-und Privatwelt, Abhängigkeit durchgetakteter, beschleunigter, digitaler Arbeitsabläufe überlasten die menschliche Psyche und führen zu Erkrankungen.

 

Gerade jetzt ist dieses Seminar wichtig,

weil die Digitalisierung und ihre Auswirkungen in vielen Sektoren weit fortgeschritten ist. Automobil- und Pharmaindustrie, Medizin, Grüne Wirtschaft, Co-working-space, Homeoffice, digitales Nomadentum, digitale Überwachungssysteme, Verfügbarkeitdruck, fehlende work-life-balance sind einige Beispiele. Digitale Ferndiagnosen und Therapiemaßnahmen sind Alltag in der Medizin. Roboter betreuen zunehmend die Menschen Altenpflegeheime in Pflege und Unterhaltung. Die vollautomatische Autoproduktion ohne Menschen ist fast schon Realität. Algorithmen und KI beherrschen die Szene.

Die digitale Gesellschaft der Zukunft ist gekennzeichnet durch e-residency, e-governance, e-tax, e-medicine, e-learning, e-parliament, e-working, e-currency etc.

 

Gleichzeitig verändern sich Arbeitsplätze und sind nicht mehr an einen Ort gebunden. Intelligente Technik dominiert Produktion und Dienstleistung und Logistik.

In dieser Dominanz gilt der Mensch nur als ein kleiner Teil der so genannten Wertschöpfungskette.

Arbeitsbedingungen werden der Technik angepasst.

Es findet eine schleichende De-Regulierung des Arbeitsmarktes statt.

 

Gewerkschaften und Arbeitnehmerorganisationen laufen dieser rasanten Entwicklung hinterher. Dabei ist die digitale Entwicklung in den EU-Ländern sehr unterschiedlich. In den osteuropäischen Ländern geht sie langsamer. Gleichzeitig ist das Bewusstsein für psychische Gesundheit, Gesundheitsmanagement teilweise gar nicht vorhanden.

 

In unserem Seminar in Herzogenrath nahmen zirka 50 TeilnehmerInnen aus Belgien, Litauen, Polen, Estland, Luxemburg, Portugal, Rumänien, Bulgarien teil.

 

Themenfelder

waren Neuaufstellung der Gewerkschaften, Status Quo der psychischen Belastung am Arbeitsplatz, präventive Arbeitsgestaltung und entsprechende Methoden im betrieblichen Gesundheitsmanagement, neuartige Tarifvereinbarungen, die auf digitale Arbeitsplätze zugeschnitten sind, Ziele gesundheitlicher Maßnahmen, Gefährdungsbeurteilungen Gesundheit, agile Organisationen, Risiken der Digitalisierung, Chancen der Digitalisierung.

 

Sabine Verheyen (MdEP) aus Aachen erklärte, das Bildung ein Schlüssel der digitalen Welt ist. Das Nell-Breuning-Haus und das EZA klären mit ihren Seminaren und ihren Netzwerken Menschen über die sozialen Verhältnisse in der Arbeitswelt auf, geben Ideen für grenzüberschreitenden Austausch, bieten den Sozialpartnern neue Impulse für eine bessere Arbeitswelt. Die Sozialpolitik in der Europäischen Union braucht den Rückenwind der Zivilgesellschaft, um gleiche und gute soziale Verhältnisse in allen Ländern der EU zu erreichen.

 

Matthias Homey (EZA) referierte über Chancen und Risiken der Digitalisierung in der Arbeitswelt: Familie und Beruf, Gesundheit, inklusive Arbeitsplätze. Die Digitale Technik ist ein Werkzeug und soll den Menschen dienen.

 

Helga Jungheim (Ver.di) hob in ihrem Referat „new work – Veränderungen in der Arbeitswelt“ die Bedeutung den EU-weiten Austausches über die Arbeits- und Lebensbedingungen hervor. Denn es gelte, die bisherigen Standards für gute und gesunde Arbeit vor dem Druck durch die digitale und wirtschaftliche Entwicklung zu schützen und auszubauen. Schutz der Privatsphäre, Freizeit und Familienleben muss vor dem Zugriff durch die Betriebe geschützt werden. Agilität, Flexibilität, Veränderung der Umgangsformen müssen positiv gestaltet werden. Das Mitander, die Wertschätzung des Anderen sind zu stärken. Die Unabhängigkeit der Menschen vor Künstlicher Intelligenz und Algorithmus muss gewährleistet sein. Die Angst vor der Digitalisierung ist ein schlechter Ratgeber und unnötig. Aber die gewerkschaftlichen Akteure müssen detaillierter mit ihr Umgehen und schneller Konzepte bereit stellen. Sie stellte außerdem die ersten so genannten Digitalisierungs-Tarifverträge vor, die die Gewerkschaft Ver.di ausgearbeitet hat.

 

Antonio Brandao Guedes (EZA) referierte über die „Digitalisierung der Arbeitswelt und die Auswirkungen auf die Gesundheit der ArbeitnehmerInnen“.

Durch die Digitalisierung wird die Produktivität stark erhöht und die Wertschöpfungskette konzentriert. Die Gewinne blieben aber in immer weniger Händen. Es gibt immer mehr High-Level-Arbeitsplätze für gut ausgebildete Menschen. Aber auch immer mehr nicht qualifizierte, prekäre Zeitarbeitsplätze. Bei all diesen Arbeitsplätzen werden Menschen zu Handlangern von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz. Durch die steigenden Profite und die Schnelligkeit der Produktionen stehen die Menschen unter hohem Leistungsdruck, der sich auf die psychische Gesundheit negativ auswirkt. Die zunehmende Anzahl von Scheinselbständigen, die im Rahmen von n Plattformen arbeiten, sind tarifrechtlich und gesundheitsmäßig völlig ungeschützt.

 

Angela Suchan Reinhardt referierte in ihrem Vortrag über die „Psychischen Belastungen am Arbeitsplatz in der Theorie“ Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz ist zunehmend gefährdet, Gründe sind Zeitnot, Angst, Stress, Entfremdung, unzureichende Kommunikation, Belastungen ergeben sich aus Arbeitsinhalte, Arbeitsorganisation, soziale Beziehung, Arbeitsumgebung.

Sie fügte im 2. Teil Teil des Referats Aspekte der „präventiven Arbeitsgestaltung“ hinzu. In den EU-Ländern gibt es verschiedene Gesetze, um psychische Gesundheit am Arbeitsplatz zu schützen: Luxemburger Deklaration 1997 (EU 89/391 EWG), Sozialpartnervereinbarung zu Stress am Arbeitsplatz (EU 2004), DIN-Norm 10075 „Definition psychische Belastung“, Arbeitsschutzgesetze, DIN 9241-2 Ergonomie „Mensch-System-Interaktion und psychische Belastung“ sind einige Bespiele. In Deutschland gibt es im Rahmen des Arbeitsschutzgesetzes die so genannte Beurteilungsgefährdung und entsprechende Fragebogen. Darin auch eine Maßnahmen-Tabelle Workshop zur psychischen Beurteilungsgefährdung. Eine fehlende Beurteilung führt zu Geldstrafen oder Gefängnis. Andere EU-Länder haben ähnliche Gesetze. Für das betriebliche Gesundheitsmanagement ist es wichtig, die Wünsche der Beschäftigten zu kennen: Sport- und Bewegungstherapie, Entspannungsmaßnahmen, Familienförderung, Arbeitsplatzoptimierung, Management-Training, persönliches Coaching sind Beispiele. Gesundheit in einem Unternehmen ist ein Prozess und kann überprüft werden. Die Organisation bzw. das Unternehmen der Zukunft ist eine so genannte „Agile Organisation“. Sie löst einen streng hierarchisch aufgebauten Betrieb ab und stellt das Ganzheitliche in den Mittelpunkt. Gruppen bzw. Teams arbeiten zusammen, tauschen sich untereinander aus und Treffen auch betriebsbedeutende Entscheidungen gemeinsam.

 

Dr. Manfred Körber vom Nell-Breuning-Haus stellte das Projekt „Arbeit 4.0“ vor. Hier können ArbeitnehmerInnen aus ihrem Arbeitsalltag erzählen. In einer praktischen Übung wurde eine Gruppe von SeminarteilnehmerInnen gebeten, die wichtigsten Aspekte für ihren Arbeits-/Berufsalltag in Form einer Würfelpyramide darzustellen. Das Ergebnis in ihrer Bedeutung: 1. Gleichwertigkeit und Augenhöhe. 2. Persönliche Freiheit, Zufriedenheit. 3. Sicherheit, Wertschätzung, Flexibilität. 4. Gehalt, Spaß an der Arbeit, Rücksicht, Vorsicht, Betriebsklima.

 

Länderberichte

Belgien: Höhere Produktivität durch Digitalisierung, Virtuelle Betriebsstätten. Transparente Besteuerung soll nicht nur national, sondern auch international erfolgen. Gerechte Besteuerung digitaler Erträge, Weil Arbeitsplätze verloren gehen. Verbleibende Arbeitszeit verkürzen und gerecht verteilen.

 

Bulgarien: Nur die Gewerkschaften sprechen über Sicherheit und Gesundheit. Aber das Thema Digitalisierung findet nicht statt. Es muss erst ein Bewusstsein für Gesundheitsschutz geschaffen werden. Es gibt eine nationale Gesundheitsstrategie, die aber nicht umgesetzt wird. Stressbewältigung wird zwar unterstützt, Gesundheitsmanagement jedoch kaum. Psychische Erkrankungen sind kein großes Thema. IT-Spezialisten ist das Thema gleichgültig. Es geht ihnen nur um hohe Einkommen.

 

Litauen: Stress, psychische Gewalt, Mobbing existieren offiziell nicht. Die Realität ist jedoch das Gegenteil. 70 % aller LitauerInnen leiden unter Stress durch permanente Umstrukturierungen. Zwar gibt es ein Gesetz. Aber die Beschäftigten haben keine Beratungsstellen. Oder ihre Beschwerden werden ignoriert und sie verlieren ihren Job ohne Abfindung.

 

Portugal: Beispiel Lehrkräfte: 70% von ihnen sind müde, kraftlos, gestresst wegen schlechter Arbeitsbedingungen und kleiner Einkommen. Die zunehmende Digitalisierung der Bürokratie in ihrem Arbeitsbereich überfordert sie. Hilfe ist nicht in Sicht. Dennoch wird von den Lehrkräften verlangt, ihren Job auszufüllen und auch die neue Welt der Digitalisierung mit zu leben und zu erklären.

 

Rumänien: Es gibt EU-Richtlinien, die in Rumänisches Recht überführt wurden. Aber es wird nicht umgesetzt. Die Macht liegt bei den Unternehmen und der Staat sieht weg. Die Gewerkschaften haben sich nicht modernisiert, sind rückständig und ihre Mitgliederzahl schrumpft. Es gibt IT-Unternehmen, die hoch digitalisiert sind und auch ein Gesundheitsmanagement haben. Trotzdem sind die Belastungen der Beschäftigten dort sehr hoch, so das in diesen Firmen auch der Krankheitsstand sehr hoch ist.

 

Die TeilnehmerInnen erarbeiteten in Workshops Strategien, Handlungsempfehlungen und Forderungen für Betriebsrat, Gewerkschaft, Interessenverbände und Politik.

Hier einige Beispiele aus den Empfehlungen, Forderungen, Strategien in Stichworten:

 

Psychische Belastung abbauen, Wohlfühl-Oasen im Betrieb schaffen, Rhythmus von Mensch und Maschine verbessern, Gesetze und Regeln für Gesundheitsprävention schaffen und auch durchsetzen, Kontrolle der Autoritäten und Management-Ebenen, Regelungen für den Informationsfluss in einem Unternehmen erlassen, Transparenz aller Belange in einem Unternehmen, Arbeitszeitkürzungen, Weiterbildung, Ansprechpartner benennen, Probleme gemeinsam lösen, kleine Maßnahmen sind der erste Schritt, Kommunikation Mensch zu Mensch verbessern, Unterstützung durch Gewerkschaften, KollegInnen zuhören und Probleme ernst nehmen, mehr praktische Kurse, um den Stress beim Umgang mit der Digitalisierung zu lernen, Arbeitszeitregelung für Homeoffice, Betriebsvereinbarung zur Nutzung von Smartphones, Schulung des Managements, einheitliche europäische Gesetzgebung zur Digitalisierung am Arbeitsplatz, mehr Zeit für einander auch im Betrieb, Bewusstsein für das Miteinander schaffen, Strategie auswählen und anfangen, bessere Betriebsärzte und Psychologen.

 

Konsequenzen/Erkenntnisse

Allen Beteiligen ist klar geworden, das die Digitalisierung auch die Chance bietet, komplett neue Arbeitsstrukturen zu schaffen, die dann den Menschen, die Gesundheit des Menschen und die work-life-balance in dem Mittelpunkt stellen. Die Umsetzung der Strategien und Empfehlungen duldet keinen zeitlichen Aufschub, sondern muss jetzt geschehen.

Es ist klar geworden, dass die digitalen Entwicklungen der Arbeitswelt und der Gesundheitsschutz in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich sind.

Um so wichtiger ist ein Austausch zwischen den Sozialpartnern und den Beschäftigten.

 

Es zeigte sich auch, dass Gesundheitsprävention, Gesundheits-Management und das Thema Digitalisierung nicht nur eine Sache der Unternehmen, der gesetzlichen Rahmenbedingungen und der Gewerkschaften sind. Auch die Beschäftigten können durch ein Miteinander, durch Achtsamkeit und Wertschätzung Arbeitsbedingungen verbessern oder neue Strategien für gute und gesunde Arbeitsplätze entwickeln. Zum Beispiel über ein so genanntes „innerbetriebliches Vorschlagswesen“, der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft und durch die Gründung eines Betriebsrates.

 

 

 

Text von Axel Gauster. © 2020 Axel Gauster/Nell-Breuning-Haus