URHEBERRECHTLICHER HINWEIS

Die Sendemanuskripte sind urheberrechtlich geschützt und dürfen vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

© Axel Gauster/Nell-Breuning-Haus

 

 

Radiofeature SendemanuskriptInterview Prof. Dr. Michael Bach

Radiofeature SendemanuskriptInterview Jean-Michel Miller

Radiofeature SendemanuskriptInterview Aimar Altosaar

Radiofeature SendemanuskriptInterview Barto Pronk

Radiofeature SendemanuskriptInterview Dr. Kaisa Luthmaa/Eero Mikenberg

Radiofeature SendemanuskriptInterview Rebecca Peters/Dr. Christina Herrmann

 

 

Interview Prof. Dr. Michael Bach

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Sende-Manuskript

Interview (Radiofeature) mit Prof. Dr. Michael Bach

in Tallinn/Estland Juni 2013

 

 

 

Sprecher

Rasante materielle und wissenschaftliche Entwicklungen zwingen den Menschen heute geradezu zur schnellen Anpassung. Meistens gegen ihren Willen und gegen ihre wirklichen Bedürfnisse. Die seelische Entwicklung ist aber viel langsamer. Prof. Dr. Michael Bach, Chefarzt und leitender ärztlicher Direktor am Chiemsee in Süddeutschland.

 

 

O-Ton Prof. Dr. Michael Bach

Wir haben mehrere einhunderttausend Jahre gebraucht, um uns zum Mensch zu entwickeln. Und werden jetzt von der technologischen Entwicklung überholt. Wir erleben immer öfter das Gefühl, dass wir unsere Lebenssituation, zum Beispiel der Arbeitswelt, nicht unter der subjektiven Kontrolle haben. Wir müssen uns immer mehr verlassen auf Maschinen, Geräte oder andere Personen. Das trägt bei zu dieser Verunsicherung, die dann letztlich auch zu entsprechenden psychischen Belastungen führt.

 

 

Sprecher

Menschen machen Systeme. Weil sie das können. Aber die Folgen können auch unerwartet sein. Zum Beispiel Turbokapitalismus ohne Rücksicht auf menschliche Bedürfnisse. Der Geist ist aus der Flasche. Und da will er nicht mehr hinein.

 

 

O-Ton Prof. Dr. Michael Bach

Also ich denke, dass wir ja letztlich nur aus unserer Wahrnehmung heraus Systeme entwickeln können. Ich nehme ein Beispiel: Unser Sehen ist ja, wenn sie das gesamte Frequenzspektrum des Lichts hernehmen, ist es ja sehr klein. Das heißt wir erleben immer nur einen kleinen Ausschnitt unserer Umwelt. Gleichzeitig bilden wir uns aber ein, dass wir Globalisierung denken und auch fühlen. Wir können sie ja nur durch die Brille unserer Gehirne sehen. Und die entwickeln sich einfach nicht so rasch.

 

 

Sprecher

Wahrscheinlich ist die Flasche dieses Geistes auch schon weg. Aber es kann ja auch einmal eine Anpassung nach unten, so zu sagen, geben. Eine Kehrtwende. Trotz Geist und trotz Flasche.

 

 

O-Ton Prof. Dr. Michael Bach

Was ich damit sagen will ist, dass ich glaube, dass wir an einem Punkt sind, wo wir letztlich die Beschleunigung zurücknehmen müssen, weil wir sonst immer mehr die Kontrolle verlieren, was wir vermeintlich noch zu kontrollieren glauben.

 

 

Sprecher

Wenn das aber nicht geschieht, dann gibt es eben seelische Folgen. Privat und durch Arbeit. Burnout und Depression zum Beispiel. Wie es dazu kommt, ist längst erforscht. Da gibt es zum Beispiel den Begriff der so genannten ‚Selbstverbrennung‘.

 

 

O-Ton Prof. Dr. Michael Bach

Ich habe den Begriff der ‚Selbstverbrennung‘ im Zusammenhang mit des Definition des aktiven Burnout gebraucht. Aktives Burnout bedeutet, dass ich als Individuum bereit bin, über meine Grenzen hinaus Leistung zu erbringen. Mich selbst auch auszubeuten. Mich selbst nicht mehr wahr zu nehmen. Meine Bedürfnisse und auch meine Grenzen. Was letztlich zu dieser Erschöpfung und zu diesen Ausgebrannt sein auch beiträgt. Daher der Name Burnout – ausgebrannt sein.

 

 

Sprecher

Jahrzehnte haben die Ärzte danach gesucht: Was macht den Menschen krank? Die so genannte Pathogenese. Mittlerweile wird ein neues Modell genutzt: Die Salutogenese.

 

 

O-Ton Prof. Dr. Michael Bach

Was in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren entwickelt wurde. Das Salutogenese-Modell ist letztlich der Frage verpflichtet: Was macht uns gesund? Was hält uns gesund? Salus das Heil oder die Gesundheit. Und ich denke, dass das ja die viel spannendere und entscheidendere Frage ist angesichts der Herausforderungen, denen wir uns täglich stellen müssen.

 

 

Sprecher

Dieses Konzept kennen wir, ohne es zu ahnen, ja auch im privaten Leben. Welche gesunden Lebensmittel gibt es? Wie halte ich mich durch Sport gesund? Wie und mit wem gestalte ich mein soziales Leben? Es geht darum, ...

 

 

O-Ton Prof. Dr. Michael Bach

… nicht nur zu überlegen, wie werde ich wieder gesund, wenn ich schon einmal krank geworden bin. Sondern eigentlich im Sinne des Präventionsgedankens frühzeitig Konzepte zu entwickeln, damit ich gar nicht erst krank werde. Und ich glaube, dass ist die Entwicklung der Zukunft.

 

 

Sprecher

Hohe berufliche und private Belastungen durchzustehen geht nur dann, wenn genügend eigene Reserven vorhanden sind.

 

 

O-Ton Prof. Dr. Michael Bach

Wir haben in der Psychosomatik dazu ein Balancemodell. Auf der einen Seite die Belastungen, die Stressoren. Auf der anderen Seite die Ressourcen. Mit Ressourcen meine ich jetzt meine persönlichen Fähigkeiten und Stärken, um mit Krisen und Belastungen gut umzugehen. Die meisten Menschen machen den Denkfehler, wenn sie sehr belastet sind, dass sie dann als erstes auf ihre persönlichen Ressourcen verzichten oder die zurück stellen, weil ich ja gerade so viel zu tun habe. Und genau das ist der Fehler. Dann wenn ich viel um die Ohren habe, dann muss ich Extrazeit in die Ressourcen legen.

 

 

Sprecher

Zum Beispiel Entspannung, Meditation oder ein Musikinstrument spielen. Also einen eigenen, wirklichen Ausgleich suchen, um das Gleichgewicht zu halten.

 

Interview Jean-Michel Miller

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Sende-Manuskript

Interview (Radiofeature) mit Jean-Michel Miller

in Tallinn/Estland Juni 2013

 

 

 

Sprecher

Es geht in Brüssel bei der Europäischen Kommission nicht voran. Jean-Michel Miller, Sozialwissenschaftler vom Eurofond aus Dublin in Irland.

 

 

O-Ton Jean-Michel Miller

Die Europäische Kommission hatte eine Strategie 2007 bis 2012 über Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. Ziel dieser Strategie war es, die Zahl der Arbeitsunfälle um 25 % zu reduzieren. Der Trend geht in die Richtung, dass dieses Ziel erreicht worden ist. Es war auch Vorsatz zu einer neuen Strategie zu kommen. Für 2013 bis 2020. Dies ist noch nicht passiert.

 

 

Sprecher

Und warum ist das so?

 

 

O-Ton Jean-Michel Miller

Da gibt es Resistenzen gegen so eine neue Strategie. Da wir immer mehr nach einer Evaluierung der Politiken und der Strategien fragen. Und auf die Antworten dieser Evaluierungen warten müssen. Das sind so technische Argumente, die vorgeschoben werden. Aber dahinter verstecken sich natürlich auch andere Argumente.

 

 

Sprecher

Da gibt es Kräfte, die für die Marktwirtschaft stehen und solche, die das Soziale in den Vordergrund stellen. Die Marktwirtschafter haben zur Zeit das Sagen.

 

 

O-Ton Jean-Michel Miller

Die Europäische Kommission hat jetzt mit einem Konsultationsverfahren begonnen. Und jeder Bürger in der Europäischen Union kann sich äußern, ob wir eine neue Strategie für Gesundheit, für Sicherheit am Arbeitsmarkt brauchen und was die Punkte, die inhaltlichen Punkte dieser Strategie sein sollen.

 

 

Sprecher

Diese öffentliche Konsultation endete am 26. August 2013. Über einen Online-Fragebogen konnten Fragen zum Arbeitsplatz, zur Sicherheit und Gesundheit beantwortet werden. Natürlich hat die europäische Gesetzgebung auch Erfolge. Zum Beispiel das Rauchverbot.

 

 

O-Ton Jean-Michel Miller

Das langfristig Auswirkungen haben wird auf weniger Lungenkrebs. Es gibt kurzfristige Auswirkungen für bessere Arbeitsbedingungen. Mehr Belüftung und so weiter.

 

 

Sprecher

Und die Sozialpartner werden zur Zusammenarbeit verpflichtet.

 

 

O-Ton Jean-Michel Miller

In der Hinsicht, dass die zwei Seiten der Industrie, Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf dem europäischen Plan ein Abkommen über Stress am Arbeitsplatz haben. Oder auch ein anderes Abkommen über Violence and Harassment am Arbeitsplatz.

 

 

Sprecher

Diese Abkommen müssen natürlich national umgesetzt werden. Und das dauert. Trotzdem gibt es auch Rückschritte oder Stillstand.

 

 

O-Ton Jean-Michel Miller

Autonomie am Arbeitsplatz hat sich über die Jahre nicht verbessert. Das heißt die Möglichkeit, die Intensität der Arbeit zu beeinflussen, den Ablauf der Arbeitsbedingungen zu bestimmen, hat sich nicht verbessert. Und wenn es hohe Nachfrage und hohen Druck gibt und wenig Möglichkeit, über den Ablauf der Produktion, kann das Stress produzieren.

 

 

Sprecher

Wie sieht es denn in Estland aus? Das Land ist seit fast zehn Jahren Mitglied der Europäischen Union und zahlt seit dem Jahre 2011 mit dem Euro.

 

 

O-Ton Jean-Michel Miller

Estland war ein Land in tiefer Krise. Hat mit der eigenen Kraft und der Hilfe der Europäischen Union diese Krise überwunden. Und ist eines jener Länder, wo die Reduzierung der Arbeitslosigkeit am schnellsten voran schreitet.

 

 

Sprecher

Ja aber was sind das für Arbeitsplätze? Teilweise schlecht bezahlt und unsicher. Daher gehen die Esten ja auch nach Finnland. Da gibt es mehr Geld und bessere Jobs.

 

 

O-Ton Jean-Michel Miller

Ich bin sicher, dass über die Zeit die Esten ihren eigenen Weg finden und ihre eigene Entwicklung steuern werden. Durch die Strukturen, die sie sich gegeben haben hier im Lande. Und eines jener Länder sein wird, dass zur Integration der Europäischen Union beitragen wird.

 

 

Sprecher

Genau von dieser Zuversicht sprechen die Esten selbst. Die geben nicht auf und gehen ihren eigenen Weg. Egal was kommt. Und das liegt auch an der Geschichte dieses Landes. Kriege und Kommunismus, Unterdrückung von Religion und Freiheit haben die Identität der Menschen gestärkt.

 

Interview Aimar Altosaar

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© Axel Gauster/Nell-Breuning-Haus

 

Sende-Manuskript

Interview (Radiofeature) mit Aimar Altosaar

in Tallinn/Estland Juni 2013

 

Sprecher

Der Este Aimar Altosaar ist im Vorstand der estnischen Krankenversicherung. Wie sieht es denn aus mit den seelischen Erkrankungen? Wie werden die bewertet?

 

O-Ton Aimar Altosaar

Wie soll ich das sagen. Unsichtbar. Die Esten haben zwar Krankheiten, aber sie sprechen nicht laut darüber. Jetzt bewegt sich aber etwas. Durch die letzten Jahre hat sich die Situation verändert. Jetzt bekommen die Menschen mehr medizinischen Schutz. Wenn ich mir das medizinische System in Estland ansehe, dann nutzen die Menschen auch die medizinischen Dienste. Aber nicht genug. Wenn sie erreichen wollen, das die Menschen mehr medizinische Hilfe annehmen, dann muss man sie davon überzeugen, dass es keine Schande ist zum Arzt zu gehen.

 

Sprecher

Krankenkassen und Ärzte begreifen immer mehr, dass dieses neue Wirtschaftssystem auch unsichere und krank machende Arbeitsplätze schafft. Veränderungen scheinen aber jetzt, nach zwanzig Jahren Eigenstaatlichkeit und zehn Jahre EU-Mitgliedschaft, möglich. Quasi eine weitere Zeitenwende in Estland.

 

O-Ton Aimar Altosaar

Die Veränderungen haben schon begonnen. Ich bin da sehr hoffnungsvoll, weil unsere Gesellschaft sehr klein ist. 1,3 Millionen Einwohner. Und wenn wir entscheiden irgendetwas zu machen, dann können wir das sehr schnell umsetzen, weil wir eben mobilisieren können. Die Politiker und die Unternehmer, die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften müssen überzeugt werden. Das ist das Wesen der Demokratie. Und wenn ich mir jetzt unsere Entscheidungsträger ansehe, dann denke ich, können wir im Gesundheitssystem etwas verändern. Und in unserer Gesetzgebung für Flexibilität und Sicherheit. Wenn wir erkennen, dass das alles zum Vorteil ist für den Kapitalisten, dann ist es möglich, einiges zu verändern.

 

 

Interview Barto Pronk

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Sende-Manuskript

Interview (Radiofeature) mit Barto Pronk

in Tallinn/Estland Juni 2013

 

 

Sprecher

Am östlichen Rand der Europäischen Union veranstaltet das Europäische Zentrum für Arbeitnehmerfragen EZA eine internationale Konferenz. Thema: Wie viel Flexicurity verträgt ein*e Arbeitnehmer*in? Warum hier in Tallinn, in Estland? Barto Pronk, der Präsident der EZA.

 

 

O-Ton Barto Pronk

Weil jeder damit zu tun hat. Nicht nur in Deutschland. Nicht nur in den Benelux. Sondern auch hier. Vielleicht sogar noch viel mehr , weil sie plötzlich in einen Zug eingestiegen sind, vom dem sie die Geschichte nicht genau wussten. Und die werden dann konfrontiert mit allem, was wir schon lange besprochen haben. Und dann ist es sehr wichtig, sie dabei zu haben. Sie müssen natürlich auch ihren eigenen Weg suchen. Es ist sehr wichtig, dass sie verstehen, warum und wie das so zustande gekommen ist. Und wie das in anderen Ländern geht.

 

 

Sprecher

Estland sitzt also in einem fahrenden Zug. Der heißt Europa und Globalisierung, Arbeitsmarktkapitalismus. Das ist für dieses Land nicht immer gut dieses Tempo. Es will nicht zerrieben werden zwischen Profit einerseits und sozialen Standards andererseits.

 

 

O-Ton Barto Pronk

Sie waren ein Teil der Sowjetunion. Die Sowjetunion war ärmer. Den einzigen Vorteil den sie haben ist: Sie sind ganz klein und sie sind deshalb etwas flexibler. Sie können schneller reagieren. Aber sie müssen alles selbst herausfinden. Und den weiteren Vorteil den sie haben ist: Sie brauchen nicht alle Fehler zu wiederholen. Wir sind dann in Zeiten des Neoliberalismus gekommen. Ich glaube nicht, das der Neoliberalismus eine sehr gute Weise ist, um eine Gesellschaft aufzubauen. Und das hat natürlich gewisse Nachteile.

 

 

Sprecher

Estland hat sich ja nicht nur von der Sowjetunion befreit, sondern musste gleichzeitig einen neuen, eigenen Staat gründen. Mit allen Strukturen, die es dafür braucht und zwar sofort.

 

 

O-Ton Barto Pronk

Man muss das eigentlich mit der Nachkriegszeit vergleichen. Man muss alles aufbauen. Man hat nichts. Man fängt eigentlich neu an. Und dann kann man nicht alles auf einmal machen. Und da macht man Fehler. Und da gibt es viele Fehler wegen dieses Neoliberalismus.

 

 

Sprecher

Ist das neoliberale Wirtschaftsmodell von Milton Friedman, die so genannte ‚Chicagoer Schule‘ gescheitert? Und ist das europäische Konzept der Flexicurity eine Art Nachfolgemodell?

 

 

O-Ton Barto Pronk

Das ist eigentlich ein Ideal wenn es gut ist. Es wird wahrscheinlich nie völlig zustande kommen. Aber es ist sehr wichtig, das wir es im Auge behalten. Das wir natürlich eine gewisse Flexibilität benötigen. Und die Änderungen, die jetzt so schnell, das ist notwendig. Dennoch ist andererseits die Sicherheit absolut notwendig. Generell hat man zu viel nach der Flexibilität geguckt und zu wenig nach Sicherheit. Ideal ist ein Gleichgewicht. Das ist für beide Parteien besser, also auch für die Wirtschaft.

 

 

Sprecher

Und warum machen da die Gewerkschaften nicht immer mit?

 

 

O-Ton Barto Pronk

Die Schwierigkeit mit den Gewerkschaften in Estland ist, dass sie natürlich existiert haben. Aber eine ganz andere Rolle hatten in der Vergangenheit als sie jetzt erfüllen müssen. Wir haben natürlich viele neue Gewerkschaften, die diese Last aus der Vergangenheit nicht haben. Aber wir haben ja auch noch alte Gewerkschaften. Und die Bevölkerung misstraut diesen alten Gewerkschaften, weil sie eben ein Teil des ehemaligen sowjetischen Regierungsapparates waren. Darum ist es für die Gewerkschaften schwierig. Manche leben die alte Tradition. Aber neue Gewerkschaften haben Schwierigkeiten, sich als Interessenvertreterinnen der Arbeitnehmer zu präsentieren.

 

Interview Dr. Kaisa Luthmaa/Eero Mikenberg

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Sende-Manuskript

Interview (Radiofeature) mit Dr. Kaisa Luthmaa/Eero Mikenberg

in Tallin/Estland Juni 2013

 

 

 

Sprecher

Die Estin Dr. Kaisa Luthmaa ist Familienärztin mit Erfahrungen in Finnland und in Estland. Eero Mikenberg ist Philosoph und Politologe. Er vertritt das Estnische Zentrum für Arbeitnehmerfragen ETÖK aus Tartu. Wie ist denn der Stand der seelischen Entwicklung der Menschen in Estland.

 

 

O-Ton Dr. Kaisa Luthmaa

Wachsend. Weil die seelischen Erkrankungen von vielen Dingen beeinflusst wird. Einschließlich der Situation am Arbeitsplatz. Wenn wir über Flexicurity und Flexibilität sprechen, dann kann das auch weniger Sicherheit für die Arbeitnehmer bedeuten. Und diese fehlende Sicherheit kann eine ganze Reihe von seelischen Problemen nach sich ziehen. Denn die Menschen wissen nicht, was morgen geschieht und das macht ihnen ein wenig Angst.

 

 

Sprecher

Depression, seelische Erkrankungen und Kapitalismus. So wie er heute ist. Gibt es da einen Zusammenhang?

 

 

O-Ton Eero Mikenberg

Lassen sie mich das so sagen: Wir haben in Estland eine Art von Erfolgskultur. Jeder will erfolgreich sein. Jeder will Teil der Erfolgreichen und der Eliten sein. Und das übt eine ganze Menge Druck auf die Menschen aus. Weil sie jeden Tag beweisen müssen, dass sie die Besten sind. Sie haben das größte Auto, das größte Haus und den besten Job. Menschen die nicht so erfolgreich sind, bleiben isoliert. Die haben keine Freunde oder Kontakte zur Gesellschaft. Die nehmen also jede Art von Risiko auf sich. Einschließlich Depression und Burnout und so weiter.

 

 

Sprecher

Die Leute haben also geradezu Angst davor, seelische Probleme an sich selbst zu erkennen oder durch Ärzte diagnostiziert zu bekommen.

 

 

O-Ton Dr. Kaisa Luthmaa

Die Menschen versuchen, dass mit Hilfe von Alkohol und anderen Drogen zu unterdrücken. Dann fühlen sie sich stark und sie können alle Probleme hinter diesem Ersatzgefühl verstecken.

 

 

Sprecher

Aber es gibt doch Gewerkschaften in Estland. Was machen die denn, um seelische Probleme durch Arbeit zu verhindern?

 

 

O-Ton Eero Mikenberg

Seit wir die Verbindung zwischen Arbeit und Depression erkannt haben, werden Depressionen nicht als Berufskrankheit anerkannt. Das ist der Grund, warum die Gewerkschaften diesem Problem nicht viel Beachtung schenken. Gewerkschaften kämpfen um Arbeitsbedingungen. Das heißt nicht mehr als acht Stunden Arbeit pro Tag zum Beispiel. Aber sie haben allmählich erkannt, dass Depression und psychische Probleme ein Arbeitsthema sind.

 

 

Sprecher

Warum ist es denn so wichtig, diese Konferenz mit dem Thema Flexicurity hier in Estland zu machen?

 

 

O-Ton Eero Mikenberg

Wir sind sozial nicht so erfolgreich aber wirtschaftlich. Wir haben einige interessante Ideen wie zum Beispiel einen einheitlichen Einkommenssteuersatz von einundzwanzig Prozent für alle. Die Menschen arbeiten hier in der Regel sehr viel. Manchmal vielleicht zu viel. Aber ich denke immer noch, dass Westeuropa ebenfalls von unseren Erfahrungen lernen kann, wie wir die Wirtschaft aufrecht erhalten. Weil wenn es zu viele Regelungen gibt und ein zu schönes Leben für die Menschen, dann werden sie nicht gerade träge, aber sie meinen, dass ihnen nichts mehr geschehen kann. Doch dann schlägt zum Beispiel die Globalisierung zu.

 

 

Sprecher

Und dann werden Fabriken gebaut und aufgekauft und wieder geschlossen. Die Leute verlieren ihren Job, gehen woanders hin. Nach Finnland zum Beispiel.

 

 

O-Ton Eero Mikenberg

Wir versuchen in Estland eine eigene Fabrikation aufzubauen. Nicht als Autozulieferer zum Beispiel. Aber für Elektronik und für Mobiltelefone und für die IT-Technologie. Ich glaube wir können von einander lernen und Europa zu einer Erfolgsgeschichte machen.

 

Interview Rebecca Peters/Dr. Christina Herrmann

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© Axel Gauster/Nell-Breuning-Haus

 

Sende-Manuskript

Interview (Radiofeature) mit Rebecca Peters/Dr. Christina Herrmann

in Tallinn/Estland Juni 2013

 

 

Sprecher

Für die größte Gewerkschaft in Belgien, die Confédération des Syndicats Chrétiens CSC, ist Estland ein wichtiges Land. Rebecca Peters von der CSC Verviers.

 

 

O-Ton Rebecca Peters

Die CSC ist ganz stark Vertreten in Kooperationen mit Ländern, in denen die Gewerkschaft noch im Aufbau ist. Wir haben gestern gehört, dass die Gewerkschaft nicht sehr gut vertreten ist. Und deswegen ist es ganz gut, einen Austausch dazu zu haben. Oder das die Kollegen zumindest hören, wie das in den anderen Ländern funktioniert kann und sich vielleicht das Eine oder das Andere abschauen können, wie sie es vielleicht umsetzen könnten in ihren eigenen Ländern. Wobei ich jetzt nicht sagen will: Man soll das kopieren eins zu eins. Das geht ja auch nicht. Die Kulturen sind ja anders. Oder die Ideen sind anders. Aber vielleicht gibt es die eine oder andere Idee, bei der sie sich sagen: Das ist eine Superidee, dass können wir vielleicht für unsere gewerkschaftliche Arbeit in den Betrieben einmal versuchen einzuführen und umzusetzen.

 

 

Sprecher

Und die Probleme in der Arbeitswelt? Sind das in in Estland andere als in Belgien? Rebecca Peters.

 

 

O-Ton Rebecca Peters

Ich finde sie nicht so sehr verschieden von uns. Ein Problem ist sicherlich dieses kommunistische Erbe. Die Sowjetunion hat doch sehr lange ihren Stempel aufgedrückt. Und man spürt ein bisschen, dass das schwierig ist. Und das die wirtschaftliche Situation und der Verdienst für Arbeitnehmer nicht so gut ist und das sie ihr Seelenheil natürlich im Ausland suchen – da muss ich sagen: Das kennen wir in Belgien auch. Vor allem wenn man an der luxemburgischen Grenze wohnt. Wo viele Leute arbeiten. Und wo es teilweise problematisch ist.

 

 

Sprecher

Ein Beispiel.

 

 

O-Ton Rebecca Peters

In Sankt Vith gibt es ein Krankenhaus und die haben viele Schwierigkeiten, um Krankenpflegepersonal zu finden. Weil die einfach zwanzig Kilometer weiter fahren. Dann sind sie in Luxemburg und verdienen um einiges mehr als das Krankenhaus von Sankt Vith sich leisten kann.

 

 

Sprecher

Die CSC aus Verviers ist ebenso Veranstalterin dieser Konferenz wie das Nell-Breuning-Haus aus Herzogenrath in Deutschland. Warum hier in Tallinn, der Hauptstadt von Estland? Dr. Christina Herrmann vom Nell-Breuning-Haus.

 

 

O-Ton Dr. Christina Hermann

Weil wir uns überlegt haben, dass wir mit dieser sensiblen Tagung ‚Flexicurity in ein Land gehen möchten, das europäisch bisher wenig bekannt ist, wenig aufgetreten ist. Von dem wir gerne näher wüssten, wie sind die sozialen Bedingungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber in diesem Land. Eigentlich hatten wir gehofft, dass wir das Nachbarland noch mit einbeziehen. Die finnische Gewerkschaft hier mit an den Tisch holen. Schon auf Grund der kleinen Distanz. Aber auch weil Finnland bekannt ist als Land, das für gewöhnlich im Bereich von Flexicurity fortschrittlicher ist als alle anderen. Aber das ist uns nicht gelungen. Insofern sind wir in Tallinn gelandet.

 

 

Sprecher

In diesem Land gibt es auch zweiundzwanzig Jahre nach der nationalen Eigenständigkeit viel zu tun. Dr. Christina Herrmann.

 

 

O-Ton Dr. Christina Herrmann

Ich teile die Ansicht, dass es in diesem Land noch viel aufzuholen gibt. Was mir während der ganzen Zeit nicht so deutlich geworden ist, ist die Rolle die die Gewerkschaft in diesem Land spielt.

 

 

Sprecher

Die estnischen Gewerkschaften sind schon da. Aber ihre Bedeutung ist nicht so groß wie in Westeuropa. Jetzt noch nicht. Dr. Christina Herrmann.

 

 

O-Ton Dr. Christina Herrmann

Ich erlebe dieses Land als noch weitgehend sich selbst überlassen. Das heißt, die Bedingungen, die geschaffen werden, schafft der Arbeitgeber beziehungsweise der ausländische Markt. In dem Finnland und Estland in eine gewisse Konkurrenzsituation treten. Mich würde schon interessieren wie weit EZA auf ETÖK als Mitglied Einfluss nehmen kann. Wie stark ihre Zusammenarbeit im Laufe der kommenden Jahre wird. Und ob sich Estland nach so einer Tagung demnächst auch einbringen wird in andere Tagungen, die wir dann im anderen europäischen Kontext machen. Das fände ich spannend heraus zu finden.

 

 

Sprecher

Es gab eine kleine Führung durch die Altstadt von Tallinn. Wie ist denn so der Eindruck? Dr. Christina Herrmann.

 

 

O-Ton Dr. Christina Herrmann

Also für mich gibt es hier ein Spaltung. Ich genieße es, die Altstadt von Tallinn zu sehen. Ich sehe, dass das alles auf europäische und auf russische Touristen abgestellt ist.

 

 

Sprecher

Aber um Tallinn herum wuchert es. Hochhausfassaden, Gewerbegebiete und moderne Wohnhäuser. Dr. Christina Hermann.

 

O-Ton Dr. Christina Herrmann

Wenn ich an die Ränder dieser Altstadt gehe, dann sehe ich Armut. Ich sehe viel Trunksucht. Ich sehe Menschen, die unter Bäumen schlafen. Ich sehe Menschen mit abgerissenen Kleidern. Die begegnen mir in dieser Altstadt nicht. Das heißt die Armut wird heraus gehalten aus den touristischen Vierteln.

 

 

Sprecher

Estland ist eine kleine, ländlich geprägte Nation. Dr. Christina Herrmann.

 

 

O-Ton Dr. Christina Herrmann

Wenn ich weiter gucke über Tallinn hinaus, sehe ich ländliche Bevölkerung, die in vielen Teilen den westlichen Durchschnitt nicht erreicht. Nicht erreichen kann. Touristisch ist es für mich interessant. Das ist keine Frage. Aber wenn ich als Sozialpartner hier herauf gucke, dann muss ich einfach die Diskrepanz fest stellen zwischen Arm und Reich, die hier definitiv vorhanden ist. Kein Este kann es sich leisten, in einem dieser Restaurants in der Altstadt essen zu gehen. Weil es schlichtweg vom Gehalt nicht möglich wäre.

 

 

 

Fotos: Axel Gauster © 2013 Nell-Breuning-Haus / Axel Gauster