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© Axel Gauster/Nell-Breuning-Haus

 

 

Synopsis

 

„Arbeitswelt 2020 – digitalisierte Zukunft“

('Working environment 2020 - digitalized future')

Handlungsempfehlungen für eine präventive Gesundheitsförderung für

Arbeitnehmer aller Altersgruppen im Unternehmen

Europäische Konferenz vom 20. bis 22. September 2017 in Tallinn, Estland

 

 

 

In der aktuellen Arbeitswelt und auch in der kommenden Phase der fortschreitenden Digitalisierung führen neben individuellen vor allem arbeitsplatzbedingte Faktoren zu Überforderungen und damit verbundenen vegetativen Stresssymptomen, die immer häufiger zu Burn-Out Symptomen

(Z.73.0 – Risikozustand) und in der Folge zu schweren Erkrankungen führen

(DGPPN Taskforce - Berger, Linden, Voderholzer, Hillert, Schramm, Maier 2012).

 

Jeder zehnte Arbeitnehmer in Europa ist schon einmal wegen einer Depression zu Hause geblieben. Das hat der europäische Fachverband European Depression Association (EDA) in einer repräsentativen online-Umfrage herausgefunden. Auch in Deutschland häufen sich die Depressionen. In den letzten 10 Jahren haben sie sich verdoppelt und die betroffenen Menschen sind im Vergleich zu anderen Krankheitsbildern mindestens zweimal so lange krank geschrieben und bleiben dem Arbeitsplatz fern. Das sagt die DKV in einer Erhebung aus dem Jahre 2017.

Jeder Depressionsschub verursacht durchschnittlich einen Ausfall von 36 Arbeitstagen. Psychosoziale Risiken und arbeitsbedingter Stress gehören, was Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz angeht, zu den größten Herausforderungen.

 

Gerade jetzt ist dieses Seminar von Wichtigkeit.

Der EU-Gipfel der Regierungsspitzen Ende September 2017 in Tallinn hat sich ausschließlich mit dem so genannten „Digitalen Europa“ befasst. Es zeigt die Wichtigkeit des Themas. Wobei es hier allerdings nur um die digitale Infrastruktur geht.

 

Im wirtschaftlichen Leben ist die Digitalisierung, die so genannte Industrie 4.0, das so genannte Internet der Dinge längst angekommen. Zur Zeit finden größere Umstrukturierungen in den Unternehmen statt, um diese Entwicklungen nicht zu verpassen. In Europa und weltweit. Es gibt keine Industrie- oder Technikmesse, die dieses Thema nicht forciert.

 

Gleichzeitig hat die Digitalisierung auch im privaten Leben Fuß gefasst. World-Wide-Web, digitale Plattformen für Kauf und Verkauf, Behördengänge, Terminierungen, Korrespondenzen und der allgegenwärtige Einsatz von Smartphones bestimmen das Bild. Es scheint also akzeptiert sein. Freilich ist das nur der Anfang. In den nächsten 20 Jahren wird sich die heutige Informationsgesellschaft in eine reine digitale Gesellschaft verwandet haben und das alltägliche Leben durchdringen. E-residency, e-governance, e-tax, e-medicine, e-learning, e-parliament, e-working, e-currency, cloud-systems sind nur einige Worte dieser neuen Zeit.

Es handelt sich also um einen Paradigmenwechsel, der nur mit der Einführung der ersten Dampfmaschinen zu vergleichen ist.

 

Schon heute müssen Menschen immer verfügbarer und flexibler Arbeiten. Und durch die eingesetzten, digitalen Möglichkeiten sind Arbeits- und Privatwelt kaum noch zu trennen.

 

Für die Sozialpartner der verschiedenen Arbeitnehmerorganisationen aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, ein Bewusstsein – auch für sich selbst – zu schaffen – dass diesem Paradigmenwechsel Rechnung trägt. Durch neue Konzepte, Ideen, Strategien, die die vorbeugende Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz für alle arbeitenden Menschen als einen Schwerpunkt für den sozialen Dialog festschreibt. Denn die Digitalisierung der Arbeitswelt bietet eben auch die Chance, Arbeit und Gesundheit ganz neu zu Denken.

 

 

In seinem Referat stellt Imre Mürk (Technische Universität Tallinn) die Zukunft der Arbeitswelt 2020 vor. Die digitalisierte Arbeitswelt ist bereits Realität und greift weit über den Arbeitsplatz hinaus in das private und gesellschaftliche Leben der Menschen hinein. Die neuen Risiken entstehen durch neuartige Arbeitsplätze und Berufsfelder. Zum Beispiel Nanotechnologie, Industrie 4.0, digitale Ökonomie, Robotik, neue Karrierewege und daran angepasste Arbeitsstrukturen und Organisationen. Ein gutes Beispiel für die private und gesellschaftliche Digitalisierung ist Estland. Hier kann nicht nur das Parlament und die Regierung via Knopfdruck online gewählt werden. Auch Bezahlungen, Behördengänge, Steuererklärungen oder das Rufen und bezahlen eines Taxis können und werden digital via Internet oder Smartphone erledigt. Und in der estnischen Verfassung ist das Recht auf Digitalisierung verankert.Imre Mürk 2017

 

Und so sind Arbeitswelt, gesellschaftliches Zusammensein und privates Leben kaum noch zu trennen. Es werden eben auch nach Arbeitsschluss berufliche Emails zum Beispiel beantwortet. Oder aber der Arbeitsplatz wird teilweise in die privaten Räume ausgelagert, um dort – digital – zu arbeiten.

 

Der Druck auf die Beschäftigten wächst, denn dem Arbeitgeber ist es in einer digitalen Welt egal, wo gearbeitet wird. Seine Maxime ist: Die Arbeit wird erledigt.

Aber auch in modernen Industriebetrieben wie in der Automobil-, Nahrungsmittel- oder Luftfahrtindustrie und in vielen Dienstleistungs- und Medienunternehmen ist die Digitalisierung teilweise Realität.

 

Die wichtigsten Aspekte und Themen sind dabei die

Erkenntnisse ökonomisch:

Nach vorsichtigen Schätzungen werden etwa 10 Prozent aller Arbeitsplätze in Europa vernichtet. Auch hochqualifizierte Arbeitsplätze. Und auch nicht mehr neu geschaffen. Die Produktivität und die unternehmerischen Gewinne werden wachsen. Das ist ein Kennzeichen der marktliberalen Ökonomie nach Milton Friedman (Chicagoer Schule): Kapital beschäftigt sich nicht mit der Gesellschaft.

Erkenntnisse Arbeitswelt:

Die Digitalisierung bedeutet für die Sozialpartner ein Verteilungsproblem von Mehrwert und von Arbeitszeit. Das ist zur Zeit nicht geklärt. Verhinderung eines „Proletariats“ der „gut“ ausgebildeten Menschen, die zu geringeren Einkommen arbeiten müssen. Vermeidung von „schlecht“ ausgebildeten Menschen ohne Arbeit. Das so genannte bedingungslose Grundeinkommen ist ein mögliches Konzept. Die so genannte Maschinen- oder Digitalsteuer auch. Vermeidung einer nicht digitalisierte Bevölkerungsschicht, die keinerlei Teilhabe mehr hat. Verringerung der Arbeitszeit, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen.

Erkenntnisse digitale Gesellschaft der Zukunft:

Es werden Unternehmen entstehen, die ausschließlich digital arbeiten. Es werden dem entsprechende neue Berufsbilder aufgebaut. Je höher der Digitalisierungsgrad ist, um so wichtiger ist die menschliche Fähigkeit für Kreativität, Analyse, Entscheidung und Interaktion. Bildung und Arbeitnehmerorganisationen werden eine zunehmend wichtigere Rolle einnehmen. Menschliche

Fähigkeiten und Potenziale, die in diesen neuen digitalen Jobs eingesetzt werden, müssen bezüglich Respekt, Produktivität und Arbeitszufriedenheit neu definiert sein. Die digitale Gesellschaft wird in zwanzig Jahren das Leben jedes Menschen vollständig verändert haben.

 

 

In ihrem Referat stellt Dr. Karin Pärnpuu (Chef-Ärztin der Tallink Gruppe AG Tallinn)

zeigt sie die gesundheitlichen Aspekte der Digitalisierung in der Arbeitwelt 2020 auf.

Es wird sehr viel über Burnout gesprochen. Aber in der Realität gibt es dafür keine genaue Diagnose. Burnout ist als Krankheit nicht anerkannt, sondern es ist ein Sammelbegriff und eine Vorstufe von Erkrankungen wie Depressionen, die dann folgen können.

 

Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht bei ihren Schätzungen zu den häufigsten Krankheiten von einer wachsenden Bevölkerung aus , die an Depressionen leidet. Insgesamt haben die Depressionen nicht zugenommen. Aber die Intensität der Depression ist stärker“. Das so genannte Burnout wird durch individuelle Ereignisse und durch Arbeitsplatzfaktoren bestimmt. Symptome sind zum Beispiel emotionale Erschöpfung, Leistungsminderung, Überforderung, Unzufriedenheit, Angst vor Arbeitsplatzverlust. Daraus entsteht chronischer Stress, der zu Depression, Angst, Schmerz, Tinnitus, Hypertonie führen kann.Dr. Karin Pärnpuu 2017

 

Nicht jeder Stress macht krank, sondern vor allem der (Dis)Stress, also der ungünstige psychologischer Stress. Disstress ist also der negative Stress mit all seinen negativen körperlichen, geistigen und seelischen Folgen für den Betroffenen. Disstress über einen längeren Zeitraum kann schließlich zu einem Burnout führen. Disstress wird vor allem durch den von außen kommenden, aber auch selbst auferlegten Leistungs- und Zeitdruck verursacht. Diese Art von Stress wird von den betroffenen Personen immer als Belastung wahrgenommen.

 

Das Burnout und die nachfolgenden seelischen Erkrankungen können aber auch durch außerberufliche Ereignisse entstehen. Denn oftmals ignorieren die Menschen ihre persönlichen Probleme. Somit ist es nicht immer leicht, die wirklichen Ursachen zu ermitteln.

 

Die wichtigsten Aspekte und diskutierten Themen

In Estland geben zwei von zehn Patienten an, Depressionen zu haben. Die anderen verneinen einen Zusammenhang ihrer körperlichen und seelischen Beschwerden mit einer eventuellen Depression. In Estland ist ein Tabu – über Krankheiten – auch seelische – zu sprechen und sie zu akzeptieren.

 

In unseren Informationszeitalter ist der Arbeitsdruck und Zeitnot ein starkes Kennzeichen. Das führt zu seelischen Belastungen und Erkrankungen.

Es gibt kaum Zeit für Ruhe, Pause und ein Leben jenseits der digitalen Arbeitswelt.

 

Erkenntnisse:

In Estland ist es vorgesehen, psychische Risikofaktoren am Arbeitsplatz in entsprechende Gesetze aufzunehmen. Dennoch wird es nicht so einfach sein, psychosoziale Erkrankungen durch Arbeit nachzuweisen. Das steht Estland dann ganz am Anfang.

 

In Estland ist auch die Telearbeit ein Faktor. Die Menschen arbeiten digital zu Hause arbeiten. Alleine und mit eigenem Tempo. Aufgaben werden vorgegeben und müssen erledigt werden. Irgendwie. Weil der Mensch aber kein einsamer Wolf ist, entsteht durch diese Situation Stress. Wenn der Austausch vis a vis mit den KollegInnen fehlt, gibt es auch keine Unterstützung von Ihnen. Die Menschen sitzen halt gerne in einem Café mit anderen zusammen, um Probleme jeglicher Art zu besprechen. Bei der einsamen digitalen Arbeit fehlt das. Gesellt sich zum Stress die Unzufriedenheit über den Arbeitsplatz, dann kann auf die Dauer zu Erkrankungen führen.

 

Durch die Digitalisierung ist es leider kaum möglich, über Probleme am Arbeitsplatz mit dem Arbeitgeber zu reden. Der sitzt vielleicht in Estland, der Beschäftigte aber in Spanien vor seinem digitalen Arbeitsplatz. Also bleibt nur der Weg zum Arzt mit seinen zahlreichen Therapiemöglichkeiten. Aber der einzelne, betroffene Mensch muss das auch wollen.

 

Natürlich ist die work-life-balance von besondere Bedeutung. Darunter fällt auch das Ernährungsverhalten der Menschen. Das verändert sich durch Stress negativ. Falsche Lebensmittel – meistens industriell hergestellt führen zu Übergewicht mit vielen Folgeerkrankungen.

Ein wirksames Mittel dagegen ist die die Salutogenese. Sport, gute Lebensmittel, freundliches soziales Umfeld, gesunde Lebensweise sind hier Schlüsselbegriffe.

 

In Estland haben Kommissionen der Arbeitnehmervertretungen gemeinsam mit Arbeitsmedizinern die Aufgabe dafür zu sorgen, dass der Arbeitgeber die Telearbeitsplätze nach gesundheitlichen Vorgaben ausstattet. Das ist nicht leicht zu realisieren – vor allem dann nicht – wenn zum Beispiel die wirkliche Arbeitszeit gemessen werden muss.

 

 

In seinem Referat stellt Dr. Manfred Böhm (Arbeitnehmerpastoral/Betriebsseelsorge Bamberg) die Macht der Algorithmen – wo bleibt der Mensch in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Er zeigt sozialethische Aspekte im sozialen Dialog und Impulse für Gewerkschaften, Betriebsrat und christliche Arbeitnehmervertretungen auf.

 

Es geht bei der Digitalisierung nicht um eine vollautomatische Fabrik, sondern um selbst denkende, sich selbst organisierende Wertschöpfungsketten. Die Verfahren und Arbeitsprozesse werden auf ein System übertragen. Und dies ist ein Paradigmenwechsel.Dr. Manfred Böhm 2017

 

Die wichtigsten Aspekte und diskutierten Themen

Wichtig ist aber besonders, diese Betrachtung von der menschlichen Seite aus zu sehen. Die Humanisierung der Arbeitswelt wird auch in Zukunft von einer hohen Bedeutung sein.

Natürlich gibt es in der Digitalisierung auch die Humanisierung. Zum Beispiel Arbeitserleichterungen, Zeitersparnisse. Aber das kommt nicht von allein. Wenn nichts unternommen wird für humanere Arbeitsplätze, wird der Grad der Ausbeutung und Selbstausbeutung perfektioniert.

 

In dieser neuen Mensch-Maschine-Interaktion darf der Mensch nicht ein Assistent der Maschine sein. Denn diese neuen „Maschinen“ optimieren sich eigenständig und arbeiten in Echtzeit. Ohne Eingriff von Menschen nur auf Grund von Algorithmen.

Ein Beispiel ist der Hochfrequenzhandel in der Finanzwelt Zwar kann der Mensch hier eingreifen, wenn die Kurse abstürzen, aber in der Regel sind es Algorithmen, die selbständig und sich prüfend einen Handelsstopp einleiten.

 

Die großen Herausforderungen für die Gewerkschaften sind folgende Tatsachen:

1. Zunehmend werden unbefristete Arbeitsverträge in Teilzeitarbeit mit flexiblen Arbeitszeiten umgewandelt. Das ist das so genannte Hiring on demand.

2. Durch die steigende Produktivität sind das Gesamtvolumen der Erwerbsarbeit.

3. Die Teilung von Arbeit, die Verkürzung von Arbeitszeit, um zunehmende Arbeitslosigkeit zu verhindern.

 

Infolge der umfassenden Digitalisierung der Arbeits- und Privatwelt ist es wichtig, sich das Recht auf Privatheit und Selbstbestimmung in automatisierten Prozessen zu erhalten. Und es gibt in der katholischen Soziallehre den Grundsatz: Arbeit und die Würde der Arbeit geht vor dem Kapital und die Arbeit ist für den Menschen da.

 

Die digitalen und technischen Möglichkeiten faszinieren die Menschen so sehr, das sie ihre Freizeit in dieses System einbaut mit dem Versprechen und der Aufforderung, selbst verantwortlich zu sein für die eigenen Gesundheit und die work-life-balance. Und für das richtige Maß Zwischen Arbeit und Ruhe, zwischen Freizeit und beruflicher Aktivität. Das so genannte self care. Dadurch wird Arbeit positiv aufgeladen. Schon heute ist zu erkennen, das der Hang zur Freiheit der Selbstausbeutung zunimmt.

Es kommen leider nie die Frage ob diese Selbstausbeutung in dem irrigen Glauben besteht, sich dadurch selbst zu Verwirklichen. Die Krankenkassen nennen dies auch: Die interessierte Selbstgefährdung durch Erfolgserlebnisse; ich verwirkliche und optimiere mich zu Tode.

 

Ein neues Zauberwort heißt Resilienz. Unempfindlichkeit stärken, individuelle Widerstandskraft stärken gegen diese Selbstgefährdung. Aber auch das kann missbraucht werden. In den ökonomischem Denkfabriken kursieren zur Zeit Konzepte, die darauf abzielen, durch die Stärkung der menschlichen Resilienz seine Belastbarkeit durch die Bedingungen des neoliberalen Kapitalismus zu erhöhen.

 

Aber nur eine emotionale Distanz zur Arbeit erhält überhaupt gesund. Wenn also diese hoch digitalisierte Arbeitswelt weiterhin hoch flexible Beschäftigte fordert; wenn die gesellschaftliche Unübersichtlichkeit weiter zu nimmt; wenn es im Betrieb immer komplizierter wird und die individuellen Chancen einer Teilhabe sinken, dann wächst das Bedürfnis nach einer nur allzu menschlichen Entlastung. Er wird sich komplett in eine einfache, überschaubare, Stress beruhigte Privatsphäre zurückziehen. Entsolidarisierung und extreme Individualisierung sind die Folge. Gleichzeitig werden auch langfristige menschliche Beziehungen leiden und die Zwischenmenschlichkeit verloren gehen.

Je komplizierter die Welt wird, um so mehr sucht der Mensch nach einfachen Antworten. Und die können gefährlich sein für die Demokratie.

 

 

Die estnische Gruppe berichtet über den Stand der Dinge.

In Estland wird viel gearbeitet. Manchmal zu viel. Viele Menschen haben mehrere Arbeitsstellen. Und jeder will erfolgreich sein. Jeder will ein Teil der Eliten sein. Die Menschen müssen ständig beweisen, dass sie die Besten sind. Eine Art Erfolgskultur. Menschen, die nicht so erfolgreich sind, bleiben isoliert von Freunde und Gesellschaft. Das übt eine ganze Menge Druck auf die Menschen aus und sie nehmen jede Art von Risiko auf sich, einschließlich Depression.“

Die estnischen Gewerkschaften haben die Verbindung zwischen Arbeitsplatz und Depression erkannt. Weil diese Störung aber nicht als Berufskrankheit anerkannt ist, haben sie diesem Thema bisher wenig Beachtung geschenkt. Sie sehen sich eher als Kämpfer für höhere Löhne und geringere Arbeitszeiten. Aber allmählich erkennen auch sie, dass seelische Probleme und Arbeitsplatz ein Thema ist.

 

Die belgische Gruppe berichtet, dass in den letzten 12 Jahren die Langzeiterkrankungen mit Burnout um das Dreifache angestiegen sind. Es gibt seit 2007 eine Antimobbing-Gesetzgebung in Belgien, die auch das Burnout berücksichtigt. Im Jahre 2014 wurde das Gesetz auch mit der Hilfe der Gewerkschaften überarbeitet. Seitdem wird noch mehr Gewicht auf das Burnout gelegt.

Arbeitgeber werden stärker verpflichtet, Strategien und Verfahren zu entwickeln, um mit diesem Thema in ihren Unternehmen besser umgehen zu können und Risikoanalysen zum Thema zu erstellen. Spezielle Fragebögen für Arbeitsmediziner und stärkere Kontrollen sind die Folge.

 

Die deutsche Gruppe berichtet über den Status Quo. Längere Arbeitszeiten ohne Bezahlung, höhere Krankheitsraten zwingen dazu, sich mit dem Thema psychische Erkrankungen durch Arbeit zu befassen. Die Politik ist seit Jahren bemüht, die digitale Infrastruktur in Deutschland auf Weltniveau zu trimmen. Freilich geht es hier nicht um vorbeugende Gesundheitsmaßnahmen an digitalen Arbeitsplätzen. Geschätzte 12 Millionen Menschen sind in Deutschland von seelischen

Erkrankungen bedroht. In den letzten 10 Jahren sind dadurch die Krankmeldungen um 50 % angestiegen. Verstärkt machen die Gewerkschaften Befragungen in den Unternehmen, um die psychosozialen Belastungen zu erkunden.

Zwar setzen in Deutschland viele unterschiedliche Branchen auf die Effekte der Digitalisierung und rüsten entsprechend um. Freilich ist dieser Paradigmenwechsel bei den Sozialpartnern noch nicht wirklich angekommen.

 

 

In ihren Arbeitsgruppen haben anschließend drei Gruppen (estnisch, französisch, deutsch) die Aufgabe, die Thematik zu diskutieren und Handlungsempfehlungen zu erarbeiten.

 

Arbeitsgruppenergebnisse

Die estnische Gruppe

Die einzelnen Beteiligten haben über ihre beruflichen und privaten Erlebnisse gesprochen, weil beide mittlerweile durch die Digitalisierung eng miteinander verwoben sind:

Kleine Unternehmen haben mehr Möglichkeiten, Digitalisierungen anzutreiben. Allerdings werden Internet-Portale meistens nach Arbeitsschluss konzipiert und gepflegt, weil tagsüber gearbeitet werden muss.

Die Einführung einer neuen digitalen Warenlager-Prozesssteuerung mit nur einem Printer bewirkte einen Bearbeitungsstau unter den Beschäftigen, weil immer nur eine Person seine Arbeitsergebnisse ausdrucken konnte, während die anderen warten mussten. Dadurch wurde mehr Zeit gebraucht, obwohl dies nicht vorgesehen war. Dies bedeutete Stress.

 

Erkenntnisse/Konsequenzen/Umsetzung/Empfehlungen

Das jeweilige Problem der Digitalisierung ist zu benennen. Gerade dann, wenn die technischen Möglichkeiten faszinierend sind und die Schattenseiten gerne verdrängt werden. Bewusstsein schaffen!

 

Die jetzige Phase der Digitalisierung ist vergleichbar mit der Phase des massenhaften Konsums von Zigaretten aus dem letzten Jahrhundert: Keine wusste damals, wie gesundheitsschädlich das Rauchen wirklich ist. Denn die Werbung versprach guten Lifestyle und der eigene Hausarzt rauchte ja auch die gleiche Zigarettenmarke. Heute sind wir ebenso abhängig von dieser digitalen Welt wie die Kinder und Jugendlichen. Gleichzeitig lobt der Arbeitgeber die Digitalisierung in den höchsten Tönen.

 

Es wird bisher nicht gesehen, dass der Mensch im Mittelpunkt von allem stehen muss

 

Daher sollten Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam diskutieren, wie die Digitalisierung und die Robotik den Menschen unterstützen kann ohne ihn zu ersetzen oder als einflussloses Rädchen im Getriebe auszubeuten, zu entmündigen und die Würde der menschlichen Arbeit zu vernichten.

 

Es muss klar gemacht werden, dass die Maschine nur ein Werkzeug ist und der Mensch das Wichtigste überhaupt ist – auch wenn oft das Gegenteil behauptet wird.

 

Die französische Gruppe

Erkenntnisse/Konsequenzen/Umsetzung/Empfehlungen

Die Digitalisierung kann Zeit schenken aber auch wegnehmen. Zum Beispiel durch unnötige und zu viele Emails.

Die Aspekte des Fortschritts werden unterschiedlich bewertet. Für einen Arbeitgeber ist zum Beispiel eine so genannte „Coca Cola App“ positiv, weil er, sobald ein LKW in der Nähe ist, viele Beschäftigte an funken kann – und der erste Beschäftigte vor Ort kann dann mit entladen. Aber eigentlich ist es ein Rückschritt, denn vor Jahrhunderten wurde in den Häfen die Glocke geläutet,

sobald ein Schiff eingelaufen ist. Und die ersten Beschäftigten am Kai mussten entladen.

 

Arbeitsstellen gehen verloren. Der Arbeitsrhythmus verändert sich. Aber die Produktivität steigt an.

Daher ist eine Arbeitszeitverkürzung das Mittel der Wahl.

 

Das Thema ist sehr komplex. Handbücher würden da ganze Bibliotheken füllen. Also muss jeder Teilnehmer in seinen Arbeitsbereich Vor- und Nachteile und Handlungshinweise entwickeln muss. Auch über Informationen und Bildung. Im privaten Bereich und in den Betrieben.

 

In den Betrieben kann über Tarifverhandlungen zum Beispiel die so genannte kleine Vollzeitarbeit gefordert werden – also der Ausgleich der bisher erbrachten Intensität und Digitalisierungsgewinne zugunsten der Beschäftigten.

 

Cybercrime ist ein wichtiges Thema. Arbeitnehmer brauchen also Notfallpläne, in denen die normale Arbeit gesichert ist.

 

Es ist aber auch ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass oftmals die private Freiwilligkeit zur digitalen Arbeit im privaten Bereich zur Selbstausbeutung führt.

 

Netzwerke müssen aufgebaut werden. Die können auch politisch sein. Einbeziehen der Medien. Auf die Gefahren der Digitalisierung aufmerksam machen – in beruflichen und privaten Bereichen. Verbraucherschutz. Vereinswelt. Elternverbände. National und international.

 

Die deutsche Gruppe

Erkenntnisse/Konsequenzen/Umsetzung/Empfehlungen

Die Gewerkschaften und Betriebsräte müssen intensive Befragungen in den Betrieben vornehmen. Wie empfinden die Beschäftigten ihre digitale Arbeit und ihren Arbeitsplatz. Wie werden sie organisiert. Man braucht aussagefähige Informationen.

 

Gewerkschaften und Betriebsräte müssen sich stärker mit dem Thema Digitalisierte Arbeitswelt befassen.

 

Heutige Software ist oftmals fehlerhaft. Die Beschäftigen müssen leider ohne irgendwelche Seminare und Schulungen eigenständig herausfinden – wo diese Fehler liegen. Das kostet Zeit auch außerhalb der Arbeitszeit. Es wird oftmals suggeriert, das mache ja Spaß, weil es spannend sei. Aber es geht in die Freiheit hinein. Es findet also eine Entgrenzung der Arbeitszeit statt.

 

Wichtig ist der Erwerb der sozialen Kompetenz, um die digitale Welt, die Arbeitszeit und die Freizeit voneinander zu entkoppeln.

 

Durch die Veränderung der Tätigkeiten in hochqualifizierten, gut bezahlte und schlechter qualifizierte und bezahlte Bereiche kann es zu einer Spaltung der Gesellschaft führen. Die kann in soziale Unruhen und in Revolutionen münden. Analog dazu mag das Zeitalter der Maschinenstürmer in Erinnerung gerufen werden.

 

Menschliche Beziehungen sind nicht durch Digitalisierung zu ersetzen.

Es müssen neue Wege der Solidarität und der Organisation von Netzwerken gefunden werden.

 

Für die Veranstalter dieses Seminars ist vor allem die Erkenntnis gereift, das die Digitalisierung der Arbeitswelt auch Chancen bietet, neue, sichere und gesunde Arbeitsstrukturen und ein neues gesellschaftliches Zusammenleben zu schaffen. Sofern die Gefahren in diesem Paradigmenwechsel erkannt und verhindert werden.

 

„Wir als Handelnde aus den Gewerkschaften, ArbeitnehmerInnenorganisationen, weltlichen und christlichen Bildungseinrichtungen, der ArbeitnehmerInnenbewegung, den Veranstaltern und der Betriebsseelsorge sind Teil der Lösung“ für die präventive Gesundheitsförderung aller ArbeitnehmerInnen aller Altersgruppen in einem Unternehmen. Diese Erkenntnis hilft, neue Wege und Modelle zur Gesundheitsförderung zu entwickeln und sie zu einem wirklichen Schwerpunkt innerhalb der Konzepte von Tarifverhandlungen zum Beispiel zu machen.

Eine weitere wichtige Erkenntnis: Die Digitalisierung in der Arbeitswelt als Paradigmenwechsel wird als Chance gesehen, ganz neue Arbeitsbedingungen und präventive Gesundheitsschutzmaßnahmen entwickeln zu können. Allerdings muss das jetzt geschehen. Auch in den Herzen, im Denken und Handeln der Menschen, die in den Sozialpartnerschaften und in sozialen Dialog Verantwortung haben. Und bei den arbeitenden Menschen, die dieser Entwicklung zum Teil noch skeptisch und ablehnend gegen überstehen.

 

 

 

Fotonachweis (von oben nach unten):

Imre Mürk

Dr. Karin Pärnpuu

Dr. Manfred Böhm

 

 

Text und Fotos von Axel Gauster. © 2017 Axel Gauster/Nell-Breuning-Haus

Links abgerufen am 27.12.2017